Paranoia by Martinowitsch Viktor

Paranoia by Martinowitsch Viktor

Autor:Martinowitsch, Viktor [Martinowitsch, Viktor]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783863911041
Herausgeber: Viktor Martinowitsch
veröffentlicht: 2015-01-14T05:00:00+00:00


Ministerium für Staatssicherheit

Protokoll akustische Wohnraumüberwachung

Objekt Mietwohnung

Serafimowitsch-Straße, Hs 16, Whg 7

11. November

Unt. Oper. Bev. M.P. Sirakoscha

Gogol und Füchsin erschienen um 18.09 Uhr im Objekt, Tür mit Schlüssel geöffnet. Dabei setzte Füchsin einen Gedanken fort:

Füchsin Ich konnte ja gar nicht kommen, weil ich zu Oma nach Kobrin gefahren war. Das konnte nur ein trampeliger Riesenbär wie Anatoli Newinski nicht spüren.

Gogol Ach. Lass das.

Füchsin Was?

Gogol Lüg nicht, Jelisaweta. Du sollst nicht lügen. Nicht vor mir.

(Anschließend schwiegen die observierten Personen einige Zeit. Dann waren auf Mikrofon 1 Geräusche bettmäßigen Charakters zu hören, teilweise in der Art eines Kampfes. Darunter waren heftiges Schnaufen, beschleunigter Atem und Stöhnen wie infolge einer Schmerzempfindung. Nach 17 Min. gingen die Bettgeräusche zu Ende, die observierten Personen verhielten sich einige Minuten lang ruhig. Füchsin begann das Gespräch.)

Füchsin Das machst du nicht mit mir. Hörst du? Das machst du nie wieder mit mir.

Gogol Es hat dir doch gefallen. Du hast mich nicht gebremst. Vielleicht hast du nur Angst dir einzugestehen, dass es dir genauso gefällt?

Füchsin Wenn du es so machen willst, hol dir eine Prostituierte. Nicht mit mir.

(Nach einer Pause von 8 Min., in der die observierten Personen lediglich eine schwere Brustatmung hören ließen, nahm Füchsin das Gespräch wieder auf, sprach aber gänzlich unvermittelt über einen anderen ihrer Partner.)

Füchsin Ich war im dritten Studienjahr an der Linguistischen Uni: Französisch, Englisch, Spanisch. Baudelaire, Verlaine, Rimbaud, Lautréamont. Opiumrauch auf den Buchseiten, wundersam sich windende, zu Ringen sich fügende Worte und die ewigen Schwaden auf allen Etagen des Wohnheims – da wurde jeder zu Baudelaire. Wir lernten sie auswendig, warfen uns Zitate zu und lachten uns scheckig über die Arbeiten der sowjetischen Literaturwissenschaftler. Es gab da einen G.K. Kossikow, und wenn am Abend eine Party steigen sollte, grüßten wir uns mit einer Phrase aus seinem Aufsatz »Baudelaire zwischen Lebensekstase und Lebensentsetzen«. Wir fragten einander schulterklopfend: »Doch auf welche Weise die Fantasie aus dem Joch befreien? Wie den übernatürlichen Zustand der Seele erreichen?« Und antworteten, wieder mit Kossikow: »Drogen? Kosmetika? Mode? Dandytum?«, ergänzt um das berühmte Baudelaire-Wort, dass der Wein den Menschen stärker konturiert und seinen Charakter bildet. Unter dem Kossikow-Banner schwärmten wir nach Wein aus. Überall Franzosen. Die Trikolore an der Wand. Hausaufgabe: ein französisches Gedicht im Stil Baudelaires verfassen. Ich schrieb etwas im Stil des »Fremdlings« – über Wolken, die über das Wohnheimdach ziehen, wundervolle Wanderwolken, Wolken, die Vater, Mutter und Schwester ersetzen, Wolken, die nie Familie hatten.

Und dann teilen sie unserer fröhlichen Uni eines Tages mit, dass uns der Präsident des MSS Murawjow besuchen wird. Natürlich nickten alle wissend einander zu, ja, wir haben ja auch die größten Freiheiten: Wir denken Französisch, wir dichten englisch, und wir können überhaupt einfach raus aus dem Land. Jetzt werden sie uns den Kopf waschen, dass wir uns einreihen in die glückliche Familie der Völker. Eine ganze Woche wurde das Unigebäude durchgelüftet. Dann zogen drei Tage lang Männer in Zivil durch die Hörsäle und bestellten die schärfsten Jungs, die gerne trommelschlagend durch die Straßen marschierten und »Der Staat ist unser größter Feind« skandierten, zum Gespräch ein.



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